in Amsterdam-Sloten und Spaarndam
Ein ganz persönlicher Bericht von Jan Kranczoch.
Nach fast 18 Monaten Corona-bedingter Absagen vieler HPV-Sportveranstaltungen, -Messen und -Treffen war es ein echter Genuss, wieder einmal bekannte und auch (mir) neue Gesichter der HPV-Familie sehen zu können – und dies auch noch im Rahmen einer großen Meisterschaft mit insgesamt etwa 50 Teilnehmenden.
Bei der Anreise lerne ich zunächst einmal die etwas surreale Urbanität im Südosten Amsterdams kennen: Die Ballung modernster Infrastruktur, jedoch ohne eine sichtbare Stadt. Fünfspurige Autobahnen kreuzen sich dreilagig, fließen über weit geschwungene Fly-Overs zusammen, flankiert von weiteren Schnellstraßen; diese wiederum begleitet von Wirtschafts- und Radwegen. Das ganze Netz noch durchzogen von größeren und kleineren Kanälen. Der Kabelsalat hinter einer endlosen Betonwand lässt eine mehrgleisige Bahnlinie erahnen, im Abstand von wenigen Kilometern durchziehen schließlich die drei Startbahnen des Flughafens Schiphol Grasplantagen und Ödland. Nun ja – genau für Leute wie mich, die im Auto für ein Wochenende zum Sport Richtung Haarlem fahren, ist das wohl bebaut worden.
Umso größer dann der Kontrast auf den wenigen Meilen ab dem Kreisverkehr nach der Abfahrt. Der Weg wird hinter jeder Kurve schmaler. Die Buchstaben eines schwedischen Möbelhauses noch im Rückspiegel, sehe ich die Flügel von Windmühlen vor mir und folge dem gewundenen Sträßchen zwischen geklinkerten, gemütlich anmutenden Häusern hindurch bis zur Abzweigung „Kerkweg“. Der führt mich tatsächlich zum Milchviehbetrieb „Blauhek“, dem auch ein Campingplatz, unsere Bleibe der nächsten Nächte, zugehört.
Andere hatten sich nach guter HPV-Sitte – und auf vorbildlichere Weise als ich – dieser Destination genähert. So war z. B. Niklas Bostelmann aus dem Süden Hamburgs in zwei Etappen mit seinem Velomobil gekommen. Die weiteste Anreise jedoch hatte vermutlich Olivier Cresson, ein Mitglied der französischen AVF. Er war mit seinem offenen ICE VTX Trike in Besançon gestartet und hatte es trotz eines Defekts seines Gepäck-Anhängers bis nach Spaarndam geschafft. Seine kastanienbraune Haut und die sehnigen Waden verrieten, dass diese Tour nicht die erste des Sommers war. Sein Trike hatte der „Ruheständler“ überdies als Dank für mehrere Monate freiwilliger Arbeit als Monteur bei ICE in England erhalten, obwohl er sich bei dieser Tätigkeit eigentlich nur selbst durch die Verbesserung seiner Englisch-Kenntnisse belohnen wollte, was ihm eindeutig gelungen war.
Jede Stadt in den Niederlanden hat ihren Radsportverein. Und viele dieser Vereine haben wiederum „Wielerbaanen“: ringförmige, gut asphaltierte Trainingskurse von 2 bis 4 km Länge. Sie durchziehen kleine Biotope oder umfangen Sportparks mit Feldern, Hallen und Tracks für andere Sportarten. Einigen mögen diese Orte als Stätten eines gekünstelten Fitness- und Wettkampfkults suspekt sein, ich könnte jedoch ohne derlei Vorbehalte einen Großteil meiner Freizeit auf so einer Bahn verbringen – eine gewisse Anstrengung in Kombination mit Sorglosigkeit und steter Wiederholung hat etwas Kontemplatives und Wohltuendes… das ist natürlich Geschmackssache. Dass diese Bahnen – insbesondere die kurzen Ovals – eine lange Tradition haben, ist hingegen gewiss. 100 Jahre alte Räder schmücken die anliegenden Vereinsheime, ebenso antike, handbestickte Sieger-Schärpen und Merino-Trikots hängen daneben, Fotos zeigen schnauzbärtige Lokalmatadoren, die von würdevoll befrackten Ältermännern auf ihren Rädern gehalten werden, die Blicke stolz auf die Kamera gerichtet. Einen gleichfalls historischen Charme verbreiten auch die sanitären Anlagen von „Olympia Amsterdam“: Kacheln, Holzbänke, die Massageliege und die Lüftungsklappe zum freien Himmel wären die perfekten Requisiten für einen Internatsfilm aus der Rühmann-Ära gewesen. Vielleicht liegt es aber auch einfach an meinem Jahrgang, dass mich Dinge, die älter sind als ich selbst, mittlerweile stutzen lassen. Leibesübungen für Damen, mithin ein getrennter Bereich zum Umkleiden und Duschen, waren weiland offenbar noch nicht vorgesehen. Irgendwie hatten sich schließlich trotzdem alle nach den Rennen vom Salz befreien und erfrischen können.
Der Kurs
Von solchen „Wielerbaanen“ jedenfalls gibt es im Südosten von Amsterdam nun gleich zwei – und eine Meisterschaft an diesen beiden Orten hatte seinen besonderen Reiz. Der WheelerPlanet Spaarnwoude ist ein 3,2 km langer Kurs, der vier recht enge Kurven über lange, nur leicht geschwungene Stücke verbindet. Über weite Strecken gleicht die Straße einer Waldschneise; entsprechende Vorsicht war an schattigen, moosig-feuchten Stellen geboten. Die kühlende Wirkung des Blätterdachs war indes während der Rennen sehr angenehm. Der einzige Buckel von vielleicht einem Meter Höhe reizte zwar zu einen kurzen Punch nach Gangwechsel; er lag jedoch vor einer scharfen Rechtskurve, die man ungedrosselt ohnehin kaum hätte passieren können, sodass man sich den Krafteinsatz für eine erneute Beschleunigung hier klug einteilen musste. Von den anderen drei Linkskurven erforderten zumindest zwei ein verhaltenes Tempo, selbst bei freier Ideallinie. Hingegen musste man im Verlauf des 2,5 km lange Ringes um den Sportpark Sloten den Kurven keine besondere Aufmerksamkeit schenken. Er hat aber in jeder Runde einen für Norddeutsche recht kernigen Anstieg von etwa sieben Metern Höhe, mit dem die Zufahrt zum Innenfeld des Sportparks überbrückt wird. Erwartungsgemäß ist dieser Hügel zu Beginn eines Rennens noch Abwechslung und Ansporn, zum Ende hin jedoch Marter und Prüfstein der Reserven. Mir war es angenehmer, diese „Anhöhe“ mit viel Tempo anzugehen als am Hang nachzudrücken, zumal das Schalten unter Last für Mensch und Material herb ist. Der Blick auf den Tacho „bergab“ tröstete zwar kurzfristig, konnte aber dem Verdruss über diese im Abstand von wenigen Minuten wiederkehrende Anstrengung nicht abhelfen. Wie es der Zufall wollte, begegneten sich häufig an diesem „klimmetje“ mehrere FahrerInnen, die sichtbar bemüht waren, ihren Rhythmus zu halten. Nur die ganz schnellen Velomobile nahmen den für sie scheinbar „ballistischen Hüpfer“ ohne Probleme.
Die Rennen
Alle Starts konnten unter nahezu idealen Wetterbedingungen stattfinden. Das für den Freitagabend in Sloten geplante Ausscheidungsrennen musste aufgrund der früh einsetzenden Dämmerung auf 18:15 vorverlegt werden. Nach einem Massenstart folgte das Feld hierbei einem „PaceCar“ (einem von Ymte Sibrandij angetriebenen Velomobil), das in jeder Runde das Tempo um 4 km/h verschärfte, jedoch nicht überholt werden durfte. Erst nach dem 6. Durchgang, bei über 54 km/h, war freie Fahrt für die Schnellsten. Man durfte theoretisch auch zurückbleiben, um die Runden zum einsamen „Warmrollen“ zu nutzen, eine wirklich hohe Endgeschwindigkeit – und damit ein guter Rang – waren aber eher im Rudel gleichstarker MitbewerberInnen und im Sog des „Hasen“ zu erwarten. Im Moment der höchsten Belastung hatte man also bereits viele Kilometer bei forciertem Einsatz in den Beinen, entsprechend umnachtet entstieg ich meinem Rad nach dieser Übung. Das Ergebnis auf dem Tableau motivierte mich aber für die längeren Prüfungen, die noch warteten. Am folgenden Samstagvormittag, bei dem 1-Stunden-Rennen in Spaarndam, gab es keine Verschnaufpause, denn Windschattenfahren war nicht gestattet. Je müder mir die Knochen wurden, desto besser kam ich indes durch die kurvigen Passagen, wodurch ich meinen Schnitt in etwa hielt. Den Plan, auch in der Schlussphase nicht nachzulassen, bezahlte ich hinter der Zielflagge jedoch mit gänzlich verhärteten Oberschenkeln. Am Nachmittag beim 20-Minuten-Kriterium teilzunehmen, schien daher ausgeschlossen. Die erst mitleidigen, dann aufmunternd-provokanten Bemerkungen von Mitstreitern, mehrere Espressos und ein Nickerchen in der Sonne richteten
mich jedoch wieder auf. Also presste ich erneut meinen Helm auf die vom Vormittag noch verklebten Haare und stellte mich meinem Schicksal. Überraschenderweise kam nach wenigen Minuten unter Last richtig Leben in den Motor und die missliebige Pflichtübung wandelte sich in ein offensives Abtasten der physischen Grenze – so etwas hatte ich noch nicht erlebt. Zudem hatte sich zur Kaffeestunde eine Schar Zuschauer eingefunden, die den Vorbeifahrenden ausdauernd applaudierte. Diese Eindrücke beflügelten mich so sehr, dass ich schonungslos all-out über die Zeit ging.
Die Erschöpfung nach diesem Rennen war dann von viel angenehmerer Art als Stunden zuvor, sodass ich auf ausreichend Energie für den Sonntag hoffen durfte. Insgesamt war das Tempo über diese „kurzen“ Distanzen ziemlich hoch, manch eine Starnummer sah ich mehrmals an mir vorbeifliegen. Man tat also gut daran, vor den kniffligen Kurven die Rückspiegel zu benutzen und dortige Kontakte zu vermeiden. Wie ich anschließend erst mitbekam, hatte ein sehr langjährig erfahrener Velomobilist eine solche unterschätzt und war mit hoher Geschwindigkeit frontal gegen einen Baum geprallt. Im Eifer des Wettbewerbs, der Kraft und Konzentration gleichermaßen zehrt, kann das passieren; daher war ich ganz froh, dass die für Sonntag vorgesehenen, mehrstündigen Rennen wieder auf der schnörkellosen Piste in Sloten stattfinden sollten.
Der Abend
Zurück auf dem Campingplatz gab es ein leckeres Essen von einem Catering-Service. In kleinen Gruppen wurde geschmaust. Irgendwie war ich aber etwas appetitlos, das Bier wollte auch nicht recht munden. Kaum war die Sonne versunken, ging auch meine Batterie in die Knie und ich bettete mich in meinem Kombi.
Nur Zuschauer
Am nächsten Morgen war recht früh reger Betrieb auf dem Platz. Die StarterInnen des 6-Stunden-Rennens, das um 10 Uhr beginnen sollte, versorgten sich mit leichtverdaulichen Kalorien, füllten Beutel und Bidons mit Mineral-Drinks und nahmen letzte Checks an ihren Fahrzeugen vor. Ich hatte noch bis 13 Uhr Zeit, meinen Kreislauf in Schwung zu bringen, denn dann sollten die Fahrer der dreistündigen Disziplin mit auf die Bahn gelassen werden. Dennoch folgte ich dem ersten Tross nach Sloten, um auch den ersten Teil des Rennes verfolgen zu können. Runde um Runde schossen die Velomobile und Züge aus teil- und unverkleideten Rädern in kaum nachlassendem Tempo vorbei. Sechs Stunden am Stück so zu fahren, mit pausenlosem Druck auf den Pedalen, schien mir ein unmenschliches Unterfangen zu sein. Drei Stunden nach meinem Start hatte ich eine grobe Vorstellung von dieser Leistung: Die erste Phase mit Elan und Adrenalin, die zweite zwischen Beherrschung und Hadern, die dritte nach dem Motto „Aufgeben ist keine Option“. Zwischendurch immer wieder Momente, in denen man glaubt, dass es phantastisch läuft, Knie und Atmung wirken federleicht – der Blick auf den Tacho entlarvt das Gefühl jedoch als Täuschung. Zum Ende hin Anflüge von Krämpfen; das weniger schmerzende Bein muss aushelfen und tut dies auch auf wundersame Weise – der Körper im sprunghaften Wechsel zwischen Warnung und Selbstbetrug. Und bei all dem zieht in der milden Nachmittagssonne eine Gruppe, die schon fast die doppelte Zeit unterwegs, mit höhnisch surrenden Ritzeln vorbei… unmenschlich.
Bei den Damen (alle genannten in Velomobilen) lieferten sich in der Gesamtwertung Eva Jacobs und Nici Walde ein spannendes Duell. Letztere hatte auf der stärker gewichteten Langdistanz und daher auch im Endklassement die Nase knapp vorn. Beeindruckend war auch die Leistung der erst 14jährigen Anna Sijbrandij. Bei den Herren dominierten erneut die „usual suspects“ – wie der Sprecher der Siegerehrung und Organisator WM, Rembrandt Bakker, treffend verkündete – nämlich Matthias König (im Velomobil) und Marvin Tunnat (unverkleidete Klasse). Gratulation!
Noch Wochen später hält die Dankbarkeit an, dass der NVHPV und dessen HelferInnen wieder eine solche Veranstaltung organisiert haben und anbieten konnten. Die Treppenstufen zur Schlussversammlung und Siegerehrung auf der Dachterrasse vom Verein „Olympia“ Sloten bleiben mir und anderen, die sich mit verhärteten Waden und über ihren Zustand lachend am Geländer hochgezogen haben, gewiss noch lange in Erinnerung. Nachdenklich schaue ich auf das Plakat zur WM 2022 in Frankreich, das Olivier Cresson mir gab: Vom 15. bis 17. Juli lädt die AVF zur WM nach Orgelet ins Jura ein. Die Hügel dort sind jedenfalls deutlich höher als in Sloten…