Text, Fotos: Morten Himmel
Die abgekürzt „LoSS“ genannte Veranstaltung ist ein Zeitfahren nach Art eines Brevets und wird seit 2008 von einem kleinem Team von Langstreckenenthusiasten alle vier Jahre organisiert. Zum ersten Mal gehört hatte ich hiervon durch einen Faden im Velomobilforum von Ende 2022, in dem ein Mitforist auf die Anfang Juli 2024 anstehende nächste Ausgabe hingewiesen hat.
Planungen
Nachdem ich während eines Brevets in 2017 bereits die südwestliche Ecke Schwedens erkundet und mir ein paar Berichte hierzu und zu Radreisen in Schweden auf einer bekannten Videoplattform angesehen hatte, habe ich mich Ende 2023 entschieden, am LoSS teilzunehmen. Bereits die Überweisung des Startgeldes hat mich vor die erste Herausforderung gestellt, da meine Bank die Übernahme der Gebühren des Empfängers nicht so ohne weiteres akzeptiert. Nach einigem Hin und Her hat es im dritten Anlauf endlich geklappt und ich habe mir als nächstes überlegen müssen, wie ich zu dem von Hamburg doch recht weit entfernten Startort in der Nähe von Kiruna ganz im Norden Schwedens gelange. Denn der Name des Wettbewerbs – Length of Sweden – ist Programm: Das Land wird in Gänze von seiner nördlichen bis zu seiner südlichen Spitze durchquert.

Auf Nachfragen im Forum hin hat ein ortsansässiger Mitfahrer zumindest erste Anhaltspunkte geben können, worauf bei der Mitnahme eines Fahrrades in schwedischen Zügen zu achten ist. Die Option der Mitnahme als verpacktes Gepäckstück im Schlafwagenabteil eines Nachtzuges habe ich für mich, trotz bestehender und fast durchgängiger Verbindung, auf Grund meiner Körpergröße und der Länge meines Liegerades – eines M5 Carbon Highracers – recht schnell verworfen. Eine Lösung dieses Dilemmas hat sich erst ergeben, nachdem ich mein Leid Anfang Juni zwei guten Freunden geklagt habe, die meist selber zu ihren Reisezielen per Bahn an- bzw. von dort abreisen und die mir daraufhin den Kontakt zu einem Liegeradler aus Västeras im südlichen Schweden vermittelt haben. Denn dieser ist nicht nur ein regelmäßiger Bahnpendler, er kennt sich darüber hinaus auch bestens mit den Fahrplänen und Beförderungsbedingungen der vielen verschiedenen Bahnbetreibergesellschaften in seinem Land aus.
So hat er mir die einzelnen Verbindungen für meine Anreise heraussuchen können und auf meine vielen Fragen, nach kurzer Recherche, stets eine Antwort gewusst. Während unseres Austauschs von Nachrichten haben wir beschlossen, dass ich bei ihm Zwischenstation machen würde – auch, weil die einzelnen Bahnfahrten in Nahverkehrszügen mehrere Tage in Anspruch nehmen würden. Da ich für die Anreise ausreichend Zeit eingeplant hatte, haben wir uns bei dieser Gelegenheit außerdem zu einer kurzen gemeinsame Ausfahrt mit anderen lokalen Liegeradlern verabredet. Über einen Bekannten aus dem Forum, der auch an LoSS teilnehmen würde, habe ich dann in der Nähe des Startortes noch für ein paar Tage vor Beginn der Veranstaltung eine Unterkunft bekommen können.

Vorbereitungen
Um Mensch und Material so gut es geht für LoSS vorzubereiten, habe ich zum Training parallel im ersten Halbjahr mehrere Brevets von 200, 300, 400 und 600 km Länge sowie zwei mehrtägige Etappenfahrten in welligem Terrain absolviert. Frei nach dem Motto „alles was ich nicht mitnehme, muss ich nicht über die Berge schleppen“ und wegen des begrenzten Gepäckvolumens, habe ich mich gegen die Mitnahme von Zelt und Kocher – und damit für’s spontane Biwakieren und feste Unterkünfte entschieden. Nach der Berechnung eines Freundes würde ich mindestens 250 km pro Tag fahren müssen, um die etwa 2.100 km im vorgegebenen maximalen Zeitlimit von insgesamt 210 Stunden (bzw. 8 ¾ Tage) schaffen zu können, da kommt es auf jedes Kilo an.

Anreise
Es ist der 24. Juni 2024. Am Nachmittag besteige ich den Zug von Hamburg nach Kiel, um von dort die Abendfähre nach Göteborg zu nehmen. Diese kommt am nächsten Morgen sogar etwas vor der angegebenen Ankunftszeit an, so dass ich ausreichend Zeit habe, um vom Fährterminal zum Bahnhof zu radeln. Dabei fällt mir auf meinem Navi bereits das erste Versäumnis auf: Ich habe zwar einen Track, aber keine genaue Karte von Schweden auf dem Gerät. Trotzdem komme ich rechtzeitig zum Bahnhof und habe noch Zeit, bei meinem Liegerad den Tretlagermast und das Vorderrad auszubauen. Hintergrund für diese Maßnahmen ist die Einhaltung der in schwedischen Zügen maximal zulässigen Gesamtlänge für Fahrräder von 190 cm. Von Göteborg Central fahre ich nach Hallsberg und übernachte auf dem Campingplatz in Tisarstrand. Am nächsten Morgen besteige ich wieder einen Zug, der mich nach Kolbäck bringt. Dort angekommen treffe ich mehrere Liegerad- und einen Trikefahrer, die mein Bekannter aus Västeras zu unserer gemeinsamen Tour eingeladen hat. Wir fahren eine kleine Runde zum Mälarsee und erkunden anschließend die Stadt und die nähere Umgebung. Den nächsten Tag verbringe ich wieder im Zug, in Sundsvall begrüßt mich ein traumhaft schön gelegener Campingplatz. Der vierte Tag in schwedischenBahnen wartet mit einer Überraschung auf: Statt zu dem eigentlich angepeilten Zwischenziel Boden gelange ich nur bis Jörn, da unser Zug dort mit einer technischen Panne abgestellt wird. In den Bussen des Ersatzverkehrs ist die Mitnahme von Fahrrädern nicht vorgesehen, also lege ich mich wieder hin und fahre die rund 170 km langen Strecke bis nach Boden mit dem Rad. Zwar habe ich unterwegs einen Plattfuß, zum Ausgleich präsentieren sich mir aber auch zwei Elche – die ersten, die ich in meinem Leben überhaupt in natura zu sehen bekomme. Auch die Fahrt durch einen großen Windpark ist ein Erlebnis. Dank der hellen Mitternachtssonne – ich befinde mich nur noch etwa 100 Kilometer südlich des Nordpolarkreises – fällt mir das Fahren durch die Nacht recht leicht. In Boden angekommen, besteige ich den Zug nach Kiruna, von wo aus ich die restliche Distanz von ca. 130 km wiederum per Rad in Angriff nehme.

Frühe Ankunft
Weil das Zimmer am Startpunkt in Katterjokk erst ab dem 1. Juli reserviert ist, bin ich bei meiner Ankunft am 29. Juni zu früh dran. Also suche ich mir zur Überbrückung ein Hostel im nahegelegenen Ski-Ort Abisko als Unterkunft. Zwei Tage später ziehe ich dann, gemeinsam mit dem zuvor erwähnten Mitfahrer, in unser Zimmer in der Turiststation in Katterjokk um. Hier ruhen wir uns erst mal von den Strapazen der Anreise aus, waschen Klamotten, bringen unsere Ausrüstung und unsere Fahrzeuge auf Vordermann. Bei unserer Ankunft sind nur recht wenige andere Teilnehmer vor Ort, sie trudeln am 3.Juli nach und nach ein. Es gibt insgesamt vier mögliche Starttage, die nach den Zeitlimits (210 h, 180 h und 150 h) sowie im ersteren Fall nach der Präferenz der Startzeit (abends oder morgens) gestaffelt sind. Für viele, gerade von weiter her angereiste, gilt es zunächst, das Rad aus der Verpackung zu schälen und zusammenzubauen.
Im Anschluss an die Ausgabe der Startnummer und technischen Abnahme der Räder gibt es noch ein gemeinsames BBQ. Gegen 21.00 Uhr wird die erste große Gruppe von Randonneuren, inklusive der drei Velomobile, mit vielstimmigen “HeiaHeia”-Rufen der weiteren Teilnehmenden und des Orga-Teams auf die Reise gen Süden geschickt. Anschließend ist für mich noch 1x Schlafen angesagt, bevor ich ebenfalls die lange Meile in Angriff nehme.


Es geht los – Tag 1
Am 4. Juli um 9.00 Uhr radle ich in einer Gruppe von rund 40 Fahrer/innen kurz vor der Grenze zwischen Schweden und Norwegen bei leicht bedecktem Himmel gen Süden los. Mit einer Geschwindigkeit zwischen 30 und 40 km/h ist das Tempo von Beginn an recht forsch. Und auch an den Hügeln verringert sich dieses nur unwesentlich. So wundert es mich nicht, dass unsere Startgruppe bereits nach wenigen Kilometern in zwei Teile zerfällt. P.E.R., mein ebenfalls mit dem Lieger gestarteter Kamerad aus Uppsala, geht bei unserer rauschenden Fahrt durch das beeindruckende Bergpanorama leider recht früh verloren. Dass ich ihn erst am letzten Tag der Veranstaltung wiedersehen werde, ist mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst. Ich konzentriere mich zunächst auf das Mithalten mit der schnelleren Gruppe und bleibe entweder neben oder hinter den Rennradlern. Ein kurzer Stopp auf Grund eines natürlichen Bedürfnisses führt dazu, dass ich erst nach etwa 50 Minuten wieder den Anschluss finde. Bei unserer Ankunft an der ersten Kontrolle nach 130 km in Kiruna habe ich einen 29er Schnitt auf dem Tacho. Allerdings meldet sich nun mein rechtes Knie, da es echt hart war, an den Anstiegen an der Gruppe von Rennradlern dran zu bleiben. Ich entscheide also, von nun an mein eigenes Tempo zu fahren, damit ich auch wirklich sicher im Ziel ankomme. Nachdem ich als letzter unserer Gruppe das Scandic Hotel (Kontrolle) verlasse, sammle ich auf der stadtauswärts führenden E10 zwei schwedische Mitfahrer ein.

Wegen des wechselhaften Wetters müssen wir auf der weiteren Strecke immer wieder die Regenklamotten an- und wieder ausziehen. Bei diesen Gelegenheiten findet sich nach und nach auch wieder die gesamte Rennradler-Gruppe von der 1.Etappe an. Die Kollegen/-innen haben wohl nach dem Stempeln noch einen Supermarkt angesteuert und ausgiebig Pause gemacht. Das Tempo ist nun etwas moderater, so dass alle gut mitkommen. Wenige Kilometer nach der Einmündung der von der finnischen Grenze kommenden E45 gibt es beim Hinterrad meines Highracers einen Knall – die Luft ist schlagartig weg. Zum Glück passiert das auf gerader Strecke, so kann ich das Rad ohne Sturz zum Stehen bringen. In Verkennung des Ausmaßes des Schadens schicke ich meine Mitfahrenden weiter. Wie sich dann bei näherer Betrachtung herausstellt, habe ich einen Riß oberhalb des Drahtrings des Mantels, wo sich vermutlich der Schlauch nach außen gedrückt hat und dann geplatzt ist. Ich beginne den mitgeführten Ersatzmantel auf dem Hinterrad zu montieren, überlege es mir dann aber anders, nicht zuletzt, weil es sich um eine schmalere Reifenbreite handelt, und montiere diesen stattdessen auf dem Vorderrad.

Nach gut zwei Stunden bin ich wieder fahrbereit und beginne, das Feld von hinten aufzurollen. Dabei überhole ich ein bis zwei Rennradler mehrmals. Abends esse ich gegen 20.00 Uhr in Gällivare in einer Pizzeria und führe dringend benötigte Kalorien zu. Nach Beendigung des üppigen Mahls nehme ich mir vor, noch bis in die frühen Morgenstunden weiterzufahren und mir dann am Straßenrand einen Platz zum Schlafen zu suchen. Nach diesem Schema werden auch meine weiteren Tage verlaufen.

Sehenswürdigkeiten und Schotter – Tag 2
In Lappland gibt es viel Wald, Flüsse und Seen, ergo viele (sehr viele!) Mücken. Das sollte man bedenken, wenn man sich zu einer „dringenden Sitzung“ ins Unterholz begibt. Die Gegend, durch die ich fahre, wird zunehmend hügeliger, ich komme an vielen Stauseen mit angrenzenden Wasserkraftwerken vorbei. Vereinzelt sind deren Wehre und Maschinenhäuser auch mal als farbenfrohes Kunstwerk gestaltet.
In der Gegend vor dem kleinen Ort Porjus sehe ich in der Nacht mein erstes Rentier. Es ist mitten auf der Straße unterwegs und schaut mich aus großen Augen an. Für mich als Stadtmensch ist das einfach fantastisch, da das Tier keine wirkliche Scheu vor mir zu haben scheint. Später am Morgen des 5. Juli scheint die Sonne. An der Kontrolle im kleinen Ort Jokkmokk begegnen mir weitere Teilnehmer/-innen und allerlei kuriose Gefährte (u.a. ein alter VW Käfer in Schweinchenrosa).


Nächstes Etappenziel ist die Kleinstadt Arvidsjaur. Mittlerweile habe ich begonnen, mit dem Handy und mit Komoot zu navigieren, da mein altes Garmin wieder mal den Track (es hat insgesamt drei für die gesamte Strecke gegeben) nur unvollständig abgespeichert hat. Gerade bei solch langen Distanzen ist es sehr wichtig, über mehrere Rückfalloptionen zu verfügen. Meine dritte Navigationshilfe, die Landkarte, ist bereits auf dem Weg von Jörn nach Boden zum Einsatz gekommen. Auf der Karte hat man einen guten Überblick und kann eine erste Auswahl der zu benutzenden Wege und Straße treffen.
Kurz hinter Jokkmokk passieren wir ein geographisches Highlight, den nördlichen Polarkreis. Diese speziellen Breitenkreise kennzeichnen die Breite, an denen die Sonne am Tag der Sonnenwende gerade nicht mehr auf- bzw. untergeht. Wobei es genau genommen ein Bereich ist, welcher von Jokkmokk im Süden und Gällivare im Norden begrenzt wird. Ab jetzt heißt es reichlich Höhenmeter zu überwinden. Dabei passieren wir erneut viele Flüsse und Seen. In Kåbdalis, einem Skigebiet, liegt sogar noch Schnee auf dem Berg. Kurz vor Erreichen des Piteälven quert vor mir ein wildes Rentier (das gestern hatte ein rotes Halsband) die Straße. Da lebhafter Verkehr herrscht, mache ich lieber das entgegenkommende Fahrzeug auf das Tier aufmerksam, als es zu fotografieren. Der Piteälven hat eine Länge von 400 km und mündet in den Bottnischen Meerbusen. Er ist einer der wenigen Flüsse Schwedens, an dem kein Wasserkraftwerk steht.



Zwischendurch gilt es, zwei Baustellen auf geschotterten Umfahrungen zu passieren. Die erste war noch fahrbar, bei der zweiten ist der Schotter zu locker und zu tief. So bin ich gezwungen, mein Rad zu schieben. Hier hole ich heute zum ersten Mal wieder zwei Mitfahrer ein, die aber Arvidsjaur ausgelassen haben. Ich dagegen habe mir im Ort mein Standardmenü bestellt und geplant, gleich noch 50 km weiter Richtung Slågen zu fahren, da ich mein heutiges Soll noch nicht erfüllt habe.


Circa bei Kilometer 550 (kurz vor Slagnås) stoße ich auf die bereits bei der Einschreibung angekündigte Schotterstrecke, welche sich, mit kurzen Unterbrechungen, über mehrere Kilometer hinzieht. Das Fahren darauf ist relativ mühsam, weil man ständig auf der Suche nach der besten Spur ist und gleichzeitig dem entgegen kommenden Verkehr ausweichen muss.
Aber irgendwann ist auch das geschafft und ich kann auf der E45 wieder gut Tempo machen. Rund zehn Kilometer weiter entdecke ich im angrenzenden Wald zwei pyramidenförmige und mit Blech gedeckte Holzkoten eines Lagers der Rentierhirten, zu dem auch eine auf Stelzen stehende Holzhütte gehört. Diese hat ihre Tür verloren und bietet sich als Übernachtungsquartier geradezu an. Da es sehr kalt geworden ist (ca. 8-9 Grad), ziehe ich vor dem Schlafengehen noch meine Steppjacke über.



Nasses Handy und miese Mücken – Tag 3
Trotzdem habe ich am nächsten Morgen kalte Füße. Also fahre ich mich warm. Auf dem nun folgenden flachen bis leicht welligen Abschnitt rollt es sich sehr gut. Beim Supermarkt in Storuman nehme ich erst einmal ein Frühstück zu mir und warte den ersten, intensiveren, von vielen der am
Samstag noch hernieder gehenden Schauern ab.

In Vilhelmina heißt es erneut für eine Kontrolle stempeln. Leider wird der Anschluss meines Handys im kurz vor Erreichen der Stadt einsetzenden Regenguss nass, als ich dieses eigentlich zum Laden an die Powerbank hängen will. Auf dem Klo des dortigen Supermarktes hat es keinen elektrischen Händetrockner, also hocke ich mich erst mal in ein Café, um auf die Trocknung an der Luft zu hoffen. Das klappt nicht. Auch die Friseure haben am Samstag anderes zu tun, als mein Handy zu fönen. Kurz vor Verlassen des Ortes sichte ich in einem Hamburgerladen einen amerikanischen Mitfahrer. Dieses Restaurant hat zum Glück einen Händetrockner, ich kann wieder aufladen. Nach und nach fallen weitere Mitradler in den Laden ein. Da ich bereits gut anderthalb Stunden im Ort verbracht habe, fahre ich um kurz nach 17 Uhr weiter.
Der anschließende Weg entlang der E45 führt uns u.a. durch den Ort Dorotea, welcher, wie Vilhelmina und Fredrika auch, nach der Frau von König Gustaf VI. Adolf von Schweden benannt wurde. Ihr Abbild ist dort in traditioneller samischer Tracht auf einem Wandgemälde dargestellt.


Am Ortsausgang fotografiere ich noch das in Form einer Zeltkote (bzw. Lavvu), d.h. einer typischen Unterkunft der Samen auf Wanderschaft, gestaltete Empfangsgebäude des hiesigen Campingplatzes. Als ich die Kleinstadt Strömsund durchquere, ist der Verkehr trotz der späten Stunde reichlich lebhaft: Am Ufer des rund 70 Kilometer langen Sees mit dem seltsamen Namen Ströms Vattudal findet gerade ein Fest mit Livemusik statt, das viele Leute angezogen hat.
Nachdem ich mein Tagespensum von 250 km erreicht habe, will ich mir eigentlich einen Platz zum Schlafen suchen. Doch jedes Mal sind an den in Augenschein genommenen Stellen sofort die Mücken in Massen zur Stelle, so dass ich immer wieder rasch das Weite suche. So geht die Nacht dahin…
Reifen nähen – Tag 4
In Hammerdal fällt mir ein holperndes Geräusch vom Hinterrad auf, welchem ich auf den Grund gehe. Auch bei dem auf dem Hinterrad montiertem Reifen hat die Flanke angefangen, sich leicht nach außen zu beulen. Also baue ich an einer Bushaltestelle im Ort das Rad aus, um die Situation zu begutachten. Das ist eine gute Idee, denn an einer Stelle hat sich bereits ein Riß in der Reifenflanke gebildet. Als Maßnahme der Ersten Hilfe nähe ich den Reifen mit Nadel und Faden, die ich für Reparaturen im Gepäck habe.
Danach fahre ich mit einem mulmigen Gefühl weiter Richtung Östersund. Im kleinen Flecken Lorås bin ich aber so müde, dass ich mich für ein bis anderthalb Stunden zum Schlafen in ein Bushäuschen lege. Zu allem Unglück setzt auch noch ein konstanter Regen ein, welcher die Stimmung in den Keller schickt. Nach dem Aufwachen muss ich mir jetzt erst mal ein Stück Schokolade gönnen, um das psychische Tief zu überwinden.

Langsam schleppe ich mich weiter. Der Gruß eines entgegenkommenden Motorradfahrers und die Anteilnahme eines Wohnmobilisten bei einem Pinkelstopp auf einem Rastplatz helfen mir, die Motivation soweit zu steigern, dass ich frohen Mutes auch die restlichen Kilometer bis Östersund hinter mich bringen kann. Die Stadt ist mit ihren rund 50.000 Einwohnern nicht so übersichtlich wie die Dörfer, die ich bislang passiert habe, aber immerhin sollte es hier Fahrradläden geben. Nach einigem Suchen finde ich endlich die Kontrollstation in der Jugendherberge. Hier gibt es jetzt erstmal ein Zimmer, ein warmes Essen und eine heiße Dusche.
Erfolglos durchforste ich zwei Supermärkte nach einem Ersatzmantel. Die Adressen hatten mir Bekannte aus der schwedischen Liegeradgemeinschaft geschickt, nachdem ich bereits in Lorås einen elektronischen Hilferuf rumgeschickt hatte.
Berge – Tag 5
Es ist Montagmorgen, ich habe mir vorgenommen, in der Stadt ein paar Fahrradläden aufzusuchen, um hier mein Glück zu versuchen und einen Ersatzmantel zu finden. Dieses Glück ist mir, in Form des Fahrradladens Söder Sport, hold und ich kann die Reise auf eigener Achse fortsetzen. Die weitere Route von Östersund aus führt uns entlang vieler Seen. Wir durchfahren den kleinen Ort Åsarna, der mehrere Gewinner olympischen Ski-Goldes hervorgebracht hat und deswegen von seinen weniger als 200 Einwohnern auch „Gold-Dorf“ genannt wird. Dann biegen wir von der E45 ab und es geht erneut in die Berge hinein. Zwischendurch gibt es immer wieder Kunstwerke am Straßenrand zu bestaunen. Die Kirchen in Oviken sind bemerkenswert, einmal weil man den Turm der neuen Kirche schon von weitem auf dem Hügel sieht, und zum anderen, weil, laut Wikipedia, die alte Kirche im Winter und die neue im Sommer genutzt wird. Hintergrund ist, dass allein erstere mit einer Heizung versehen wurde. In Myrviken lege ich einen Stopp in der Fjällkonditorei ein, um regionale süße Teilchen zu verkosten.


Auch wenn die Kletterei auf rauen Straßen mit teilweise 8 % Steigung recht zäh ist, entschädigen einen doch die tollen Ausblicke und die rauschenden Abfahrten für die Mühsal. Später gibt es im Dorf Vemdalen wieder mal Pizza, um die verbrauchten Kalorien aufzufüllen. Dann geht es noch ein paar Stunden weiter, das heutige Kilometerpensum will geschafft werden.


Einsamkeit – Tag 6
Nach vielen einsamen Landstraßen freut man sich um so mehr, wenn man unterwegs doch noch mal einen an LoSS teilnehmenden Radler trifft. Das geht sowohl der schwedischen Teilnehmerin aus Stockholm so, die mich vor Älvdalen auf einem Berggipfel überholt, als auch mir, als mich vor Fredriksberg die beiden Fahrer mit Namen Tor und Larry auf je einem Cruzbike-Liegerad einholen und wir bis zur Kontrolle dort zusammen fahren.


Regen – Tag 7
Nach einer kühlen Nacht im Biwak stoße ich am Mittwochmorgen auf Benny mit seinem Pelso-Liegerad. Wir fahren den gesamten Regentag zusammen bis zu einem ehemaligen Bahnwartehäuschen bei Hög. Dieses hat eine Tür, die man hinter sich schließen kann, und bietet sich als Nachtquartier förmlich an.

Baden und leerer Akku – Tag 8
Am Donnerstagmorgen fährt Benny dann zeitig weiter, da er möglichst bald im Ziel sein will, um am nächsten Tag den über 500 Kilometer langen Heimweg per Rad antreten zu können. Ich habe mir vorgenommen, die restlichen Kilometer bis nach Smygehuk – dem Ziel – zu genießen und halte an meiner Absicht fest, erst am Freitag dort anzukommen. Es gilt einfach noch, so viele schöne Momente zu erleben…




Heute habe ich auch endlich die Chance, einen weiteren Punkt auf meiner „Bucketlist“ abzuhaken: in einem schwedischen See zu schwimmen. Das Wasser ist zwar recht kühl, aber das Gefühl von Erfrischung und Sauberkeit danach ist einfach toll. Am Abend schaffe ich noch knapp die Kontrolle im lokalen Supermarkt in Hyltebruk. Leider verpeile ich dabei, dass meine Powerbank leer ist und somit mein Smartphone nicht lädt. So stehe ich im nächsten Dorf ohne Navigation da. Außerdem ist es bei sternenklarem Himmel eine kalte Nacht (unter 6 °C) und ich bin jetzt schon sehr müde. Daher fahre ich keine weiteren 100 km mehr, sondern verordne mir am Rande eines kleinen Wäldchens Bettruhe.
Süßteilchen und Ankunft – Tag 9
Freitagmorgen. Zwischen Simlangsdalen und Veinge treffe ich P.E.R. auf seinem Liegerad des US-Herstellers Schlitter wieder. Dank seiner ausgeklügelten Elektronik am Rad kann er mir beim Nachladen meines Handys aushelfen. Nachdem wir schon ein Weilchen miteinander geradelt sind, fragt P.E.R. mich, ob ich Lust auf eine „Fika“ (schwedisch für Kaffeepause) in Laholm, der nächsten Kleinstadt hätte. Er meint, es gebe dort eine Konditorei, von der er schon viel Gutes gehört habe. Dass auch er solch eine Tradition pflegt und diese zudem noch mit Essen zu tun hat, wozu wir unterwegs eh‘ viel zu selten angehalten haben, macht ihn mir gleich noch sympathischer. Auf dem Marktplatz der traditionsreichen Stadt angekommen, gelingt es uns, nach etwas hin und her kurven, die besagte Konditorei mit angeschlossenem Café ausfindig zu machen. Die Konditorei Cecil ist ein echtes Juwel, besteht die Einrichtung doch noch aus dem originalen Inventar aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Im Hintergrund wird dazu noch schwedische Swingmusik vom Plattenspieler gespielt. Die belegten Brote und Brötchen sowie die süßen Teilchen sind ein geschmackliches Highlight. Nach einer ausgiebigen Pause zieht es uns jedoch weiter, denn wir wollen noch heute am Ziel ankommen.

Via Klippan und Kageröd, und nach dem Überwinden diverser Höhenzüge, erreichen wir schließlich am frühen Abend die Stadt Eslöv. Da es von hier aus in die Nacht hineingeht und auf der Streckenbeschreibung bis zum Ziel keine weiteren Verpflegungsmöglichkeiten mehr ausgewiesen sind, decken wir uns nochmal mit Proviant und Wasser ein. Auch gilt es, unsere baldige Ankunft dort per SMS an die Orga zu avisieren. Mit uns zusammen sind noch ein halbes Dutzend weitere Teilnehmer auf den letzten paar hundert Kilometern unterwegs, von denen es aber leider nicht alle rechtzeitig vor Ablauf des Zeitlimits von 210 Stunden bis ins Ziel schaffen werden. Wir jedoch liegen noch relativ gut in der Zeit (es mag zwischen 20 und 21 Uhr sein), so dass wir frohen Mutes die letzten rund 60 km bis zur Küste in Angriff nehmen.




Nachdem wir noch einen Platten an P.E.R.s Schlitter Encore repariert und unterwegs etliche Herrenhäuser und kleine Schlösser passiert haben, nähern wir uns schließlich ab Klagstorp definitiv der Küste. Ab etwa Äspo kann man dann endlich auch das nahe Meer riechen, was uns in der hellen Nacht noch ein letztes Mal anspornt, auch die allerletzten Kräfte für den Endspurt ins Ziel zu mobilisieren. In Smygehamn ist das Ziel zum Greifen nah und wir halten sehnsüchtig nach dem Abzweig zum Smygehuk, der südlichsten Ecke Schwedens, Ausschau. Dieser ist auch bald gefunden und quer über einen Parkplatz erreichen wir schließlich das Ziel. Aus einer am Rand des Parkplatzes gelegenen Hütte treten zwei Vertreter der Orga zu uns, um ein offizielles Zielfoto aufzunehmen und uns ins Trockene zu geleiten, wo wir den Schlussstempel für unsere Brevetkarte erhalten.
Mit unserer Ankunft hat ein leichter Regen eingesetzt, so dass wir dieses Angebot gerne annehmen. Nach einer weiteren Stärkung heißt es für mich, Abschied zu nehmen, gilt es doch die gut 20 km weiter zu meinem Gastgeber, dem Liegeradladen in Rydsgard, abzuspulen. Dort nimmt mich nachts gegen halb drei der Inhaber in Empfang. Nach einer kurzen Dusche kann ich mein Haupt endlich in einem wohlig warmen Zimmer mit einem ausreichend langen Bett zur Ruhe legen.
Rückreise
Am nächsten Morgen unterhalten wir uns bei einem leckeren Frühstück über das absolvierte Superbrevet LoSS, Liegeräder, seinen Laden und die aktuelle Marktsituation in Bezug auf HPVs, bevor ich am späten Vormittag bei Nieselwetter zur Fähre von Trelleborg nach Rostock aufbreche.
Die Überfahrt verläuft ohne Probleme, gegen 21 Uhr legt das Schiff im Hafen vor Rostock an. Von dort radle ich zum Rostocker Hauptbahnhof und erreiche den letzten Zug des Tages nach Schwerin. Da ich keine große Lust verspüre, mehr als 3,5 Stunden bis zum ersten Zug nach Hamburg am dortigen Bahnhof herumzuhängen, und weil das Wetter trocken und mild ist, trete ich für die letzten 120 Kilometer wieder in die Pedale. Am Sonntagmorgen komme ich kurz vor sechs Uhr in Hamburg an.

Fazit
Von 130 Teilnehmenden sind 84 im Zeitlimit angekommen, zwei Teilnehmer sind noch ein paar Stunden danach eingetrudelt. 16 Teilnehmende haben aus verschiedenen Gründen abgebrochen und 30 sind gar nicht erst gestartet. Die schnellsten Starter sind die Strecke von Riksgränsen bis Smygehuk in unter 110 Stunden gefahren. So viel zur Statistik…
Ich selbst bin während der drei Wochen meines Urlaubs insgesamt rund 2.500 km Rad gefahren.
Sehr gefallen haben mir die urtümliche Natur, die weite Landschaft, die vielen tollen Begegnungen mit netten Menschen, die gute Orga der Veranstaltung und die große Kameradschaft unter den Langstreckenradler/innen. Auf technischer Seite hat der M5 Carbon Highracer weitestgehend zuverlässig seinen Dienst verrichtet, auch wenn die gewählte Laufradgröße von 27,5‘‘, was die Ersatzteilversorgung angeht, doch nicht so optimal gewesen ist. Der gut abgelagerte GP 5000 Rennreifen am Vorderrad hat die Schotterpassagen ohne Panne überstanden. Dass das Navi die Strecken nicht komplett übernommen hat und ich darum keine Karten von Schweden auf dem Garmin hatte, muss ich mir selber ankreiden, da ich das nicht ausreichend kontrolliert habe. Deswegen habe ich auch die ganzen Akkus und Batterien am Ende völlig umsonst mitgeschleppt. Ich kann das LoSS auf jeden Fall weiterempfehlen, auch wenn es, gerade für Anfänger, eine ganz besondere Herausforderung darstellt. Aber mit einer guten Selbstorganisation und Vorbereitung ist man in der Lage, auch diese zu meistern.
Du hast Appetit bekommen? 2028 steht die nächste Sverigetempot an! Start wie immer an der Grenze zu Norwegen bei Riksgränsen – 68°26’5.4″N 18°6’29.4″E. Das Ziel bei Smygehuk, Schwedens südlichster Punkt – 55°20’14.1″N 13°21’35.9″E.