Three Wheels Good – Four Wheels Bad?

Die Velomobilblase

Text + Bilder: Charles Henry

Mehr als 20 Jahre sind vergangen, seit Allert Jacobs von velomobiel.nl mit dem Quest das erste wirklich schnelle Velomobil (VM) vorstellen konnte. Seit 2010 haben Entwickler und Konstrukteure wie Eggert Bülk (Milan) und insbesondere Daniel Fenn (Evo R, Evo K, DF, …) entscheidend zur velomobilen Weiterentwicklung beigetragen.

Heutige VM (Milan, DF, Alpha7, Alpha9, Snoek) sind ware Wunder an Effizienz. Sie sind leicht, aerodynamisch optimiert und rollen auf schmalen Reifen gut und oft auch schnell. Mit 180 Watt können Geschwindigkeiten jenseits der 50 km/h auf gerader Strecke gehalten werden, vorausgesetzt man montiert «Hosen» (Radhausabdeckungen) und Kopfhaube. Interessanterweise bleibt auch nach vielen Tests unklar, welches der genannten VM nun das allerschnellste ist. Sie werden praktisch alle in derselben Fabrik in Rumänien bei velomobilworld.com in Handarbeit hergestellt.

Doch das ist nicht der Grund, wieso sie je länger desto ähnlicher aussehen. In der Biologie spricht man von konvergenter Entwicklung, wenn Formen durch äussere Einflüsse geprägt immer ähnlicher werden. Dies scheint auch bei den VM der Fall zu sein. Sie verfügen über praktisch identische Fahrwerke mit 2 gebremsten Rädern vorne und einem angetriebenen Rad hinten. Der Fahrer liegt so tief wie möglich in der enganliegenden Verschalung, denn moderne VM sind darauf ausgelegt auf gerader Strecke möglichst hohe Geschwindigkeiten zu erreichen und in Kurven nicht zu kippen. Dass dabei bezüglich Komfort und Sicherheit Kompromisse eingegangen werden müssen, verwundert nicht.

Wer sich neben technischen- auch für geschichtliche Aspekte des VM interessiert, kann unter velomobileseminars.online einen praktisch unerschöpflichen Schatz an Infos zu Human Powered Vehicles (HPV) heben. Als Einstieg sei der Talk von WM-Pionier und Leitra Konstrukteur Carl-Georg Rasmussen am VM-Seminar in Dornbirn 2015 empfohlen.

4-rädrige VM sind praktisch alles Einzelstücke

Auch vierrädrige HPV gab es schon vor langer Zeit. Die «Velocar» in Frankreich erlebten in den Jahren vor dem 2. Weltkrieg ihre Blütezeit. Wegen Benzinmangel wurden in Schweden 4-rädrige, teils mehrplätzige VM wie das «Fantom» in den Kriegsjahren als Autoersatz entworfen. In den Achtzigern baute John Kingsbury in England ein vollverschaltes Vierrad und Paul Rinkowsky rüstete in der DDR sein «Turro» Vierrad mit ultraschnellen selbstgemachten Reifen aus. Viele dieser Prototypen und die mit dem Vierradprinzip einhergehenden Herausforderungen wurden von Ingo Kollibay beschrieben. (Kollibay, Ingo, Four-wheeled Velomobiles The concept, 6th European Seminar on Velomobile Design (16.Oct. 2009, Kopenhagen, PDF-Download)

Miles Kingsbury baute sein «Quattro», und bewies gleich selbst, dass sich vierrädrige VM für die grosse Tour eignen, indem er die von Josef Janning organisierte ROAM – Roll Over America – mitfuhr. Überall, wo sie auftauchten, erregten 4-rädrige VM Aufsehen, aber dennoch blieben die allermeisten Einzelstücke. Als velomobiel.nl 2016 das Quattrovelo – ein schnelles, alltagstaugliches VM mit 4 Rädern auf den Markt brachte, glaubte man, die Zeit der 4-rädrigen VM sei gekommen.

Leider ist es bis heute das einzige 4-rädrige VM geblieben, welches in Serie ging. Die Velomo Manufaktur in Weida geht zur Herstellung von Velomobilen individuelle Wege. Auf Basis seines modularen Quad Rahmens entwickelt Steffen Schönfelder auf Kundenwunsch, verschalte HPVs für ganz unterschiedliche Einsatzbereiche. Aus einer Zusammenarbeit mit der Fa. Eurocircuits entstand 2018 das Quadvelo, ein originelles Fahrzeug, das aktuell vorbestellt werden kann. Das schwedische Frikar E-Bike hingegen soll dank industrieller Produktion zu günstigem Preis (bald…?) den Massenmarkt bedienen können.

Ähnliche Fahrzeugkonzepte von Schaeffler (Bio-Hybrid) und Canyon (Future Mobility Concept) bedienen wohl eher die Fantasie als ein reales Kundensegment. Alle haben sie gemeinsam, dass sie mind. 80 kg wiegen und deshalb auf einen Elektrozusatzantrieb angewiesen sind, zeigen aber auch, dass Interesse seitens der Industrie an verschalten HPV-ElektroHybriden besteht.

Meine eigenen ersten zaghaften Versuche als Vierradkonstrukteur

Ich selbst «startete meine Karriere» als HPV-Konstrukteur 1998 mit einem offenen einseitig angetriebenen Quad. Das Chassis bestand aus einer 30 mm dicken, gefalteten Aluwabenplatte. Die Traktion des einseitigen Antriebs war miserabel, aber das HPV war kaum in Schieflage zu bringen und der Federkomfort der gummigefederten Längslenker war phantastisch. Beim «Four For Two», abgekürzt «442» (2015) glaubte ich zuerst das Antriebsproblem (2 angetriebene Räder machen in Kurven unterschiedlich weite Wege) mittels Differential lösen zu können. Sobald aber, bedingt durch den steifen Alurahmen und das sportliche Fahrwerk, das 442 auf unebener Unterlage ein Beinchen hob, war kein Vorankommen mehr. Abhilfe brachte erst der Einbau von je einem Freilauf pro Hinterrad. Weil es mir aber nicht gelang, die Bremsen des 442 gleichermassen für Solo- als auch den 2 Personenbetrieb auszubalancieren, wurde auf den Bau der geplanten Verschalung verzichtet.

Chassis des Prototpys von Charles Henry

3-Rad vs. 4-Rad bei VMs

Nachfolgender Vergleich soll zeigen, wo die unterschiedlichen Konzepte punkten können: Im Alltag und wahrscheinlich auch auf Touren hat das 4-Rad VM konzeptbedingt die Nase vorn. Beim Renneinsatz und bzgl. Preis hat das 3-Rad das Sagen.

Denken wie ein Automobilkonstrukteur

Nun fragt der Leser natürlich zu Recht, wieso nicht mehr 4-Rad VM am Markt angeboten werden. An kauflustigen Interessenten würde es wohl nicht fehlen, wie div. Kommentare auf velomobilforum.de zeigen. Doch Forschungsbedarf und Entwicklungsaufwand sind enorm. Selbst erfahrene Velomobilkonstrukteure wie Daniel Fenn und Ymte Sibrandij haben das Vorhaben ein Vierrad zu konstruieren vorerst zurückgestellt. Erfolgsversprechender als «bewährte» VM-Lösungen fürs 4-Rad VM zu übernehmen, wäre wohl der Ansatz, technische Konzepte aus der Automobiltechnik in Leichtbau zu adaptieren. Das würde jedoch bedingen, dass nicht nur neue Verschalungsformen, sondern auch neue Komponenten für Radaufhängung und Antrieb von Grund auf entwickelt werden müssten. Also verlieren wir keine Zeit, sondern fangen wir gleich mit einer Analyse der Knackpunkte an.

Der Autor und sein Prototyp – als Zweisitzer

Herausforderungen bei Velomobilen auf 4 Rädern

Die Verschalung

Monocoque Konstruktionen sind bei VM weit verbreitet. Sie sind Verschalung und Chassis in einem und helfen dadurch das Gewicht zu reduzieren. 4-rädrige VM stellen besonders hohe Anforderungen an die Konstrukteure, weil der Monocoque Torsionsbewegungen der Achse aufnehmen muss. Einstiegsluken, speziell solche mit grossem Deckel, müssen durch besondere Konstruktionen abgestützt werden, sonst drohen Spaltmaße breit wie Gletscherspalten.
Wegen der (breiten) Hinterachse lässt sich die allseits empfohlene aerodynamische Tropfenform bei 4-Rädern nicht so einfach realisieren. Drehen wir jedoch die Verschalung für die Räder um 90° zur Längsachse und stellen die Verschalung für den Fahrer senkrecht drauf, so sieht’s gleich besser aus. Gelingt es zudem die Wirbelschleppe hinter dem VM und damit die Sogwirkung zu reduzieren, so können ähnliche Cw -Werte (= Luftwiderstandsbeiwerte) wie bei 3-Rädern realisiert werden, wie CFD-Simulationen der Hochschule Rapperswil in unserem Auftrag ergeben haben.

Der Antrieb

Das Antriebssystem beim VM hat die Aufgabe, die Muskelenergie möglichst verlustarm in Fortbewegung zwischen 0 und 60 km/h zu verwandeln, indem es kontinuierliche Traktion auf beide Räder auch bei Kurven und unebenem Gelände ermöglicht. Dabei besteht eine direkte Wechselwirkung mit dem Fahrwerk.

Das Fahrwerk

Gute Federung und genügend Dämpfung ist entscheidend für Komfort, Sicherheit und Ergonomie. Die Vorderradaufhängung kann ähnlich wie bei 3-Rädern konstruiert sein (z.B. mit McPherson Federbein). Durch die Vorverlegung der beiden Vorderräder resultiert bei gleicher Fahrzeuglänge ein längerer Radstand ohne Einbußen an Kurvenstabilität. Die Auslegung der Hinterradaufhängung ist besonders anspruchsvoll, gilt es doch eine Lösung zu finden, welche einerseits die notwendigen Federwege ermöglicht und andererseits den Parallellauf der Räder nicht (zu stark) beeinträchtigt. Spätestens an diesem Punkt lohnt sich auch für eingefleischte VM-Konstrukteure ein Blick über den Tellerrand hin zur motorisierten Zunft z.B. hier.

Warum erzähle ich euch das?

Weil ich überzeugt bin, dass es Wege gibt, schnelle VM zu entwickeln ohne Abstriche bei Komfort und Sicherheit, habe ich mich die letzten 2 Jahre intensiv mit der Konstruktion von 4-Rädern beschäftigt. Dabei ist in enger Zusammenarbeit mit der Fa. Birkenstock Bicycles in Jona ein 4-rädriger VM-Prototyp entstanden, über den ich euch gerne in einer der nächsten Info Bull-Ausgaben berichte.