40 Jahre Leitra

Im Jahr 2020 gab es eine große Geburtstagsfeier: das älteste Serienvelomobil der Welt wurde 40 Jahre alt.
Der Däne Carl Georg Rasmussen im Gespräche mit dem Info Bull-Magazin über seine Leitra.

Text: Carl Georg Rasmussen – Redaktion: Andreas Pooch

Krisenzeiten (1980)

Die Zeit ist schnell vergangen. Es hat Spaß gemacht und Herausforderungen gebracht. Eine ganze Bewegung ist entstanden und ein neuer Begriff ist angekommen: das Velomobil. Oft kann man erkennen, dass Unruhe und Krisen den Erfindergeist und dem technischen Fortschritt fördern.
In den 1970er Jahren kamen viele Diskussionen auf, über die Grenzen des Wachstums (limits to growth) und über nachhaltiges Leben (sustainable life). Zwei Ölkrisen (1972 und 1978) führten zu einem Steilflug der Benzinpreise, zu verzweifelten Autofahrern in langen Schlangen an den wenigen Tankstellen, die noch geöffnet waren. Ich war damals zufällig in den USA und hatte erlebt, wie sich Menschen gestritten und sogar mit Waffen gedroht haben, um Treibstoff für ihre durstigen Autos mit Vierradantrieb zu bekommen.

Ganz einfach austeigen aus der Leitra – Carl Georg im Gespräch

Ganz so heftig war es in Europa nicht, trotzdem wurden autofreie Sonntage eingeführt. Wir Fahrradfahrer konnten auf der Autobahn radeln! Das war eine herrliche Zeit. Für mich brachte es die Anregung, ein leichtes Fahrzeug mit Pedalantrieb zu entwickeln. Es sollte für Radfahrer komfortabel und gleichzeitig alltagstauglich sein. Erfahrung mit dem Leichtbau hatte ich schon beim Flugzeugbau (Segelflieger und Motorsegler) gesammelt.
Der erste Prototyp war in 1980 fahrbereit und die ersten Erfahrungen im Straßenverkehr konnten gesammelt werden. Weitere Anregungen und Ideen bekommt man am besten, wenn man einer Gruppe potentieller Verbraucher Testfahrzeuge zur Verfügung stellt. Deshalb wurde die erste Leitra-Serie mit 12 Fahrzeugen an 50 Leute jeweils für ein bis zu drei Monate vermietet. Es waren sowohl jüngere als auch ältere Menschen in dieser Gruppe.
Die Pionier-Velomobisten zahlten nicht nur Miete, sondern lieferten auch Erfahrungsberichte. Das war eine gute Grundlage für die weitere Entwicklung der Leitra. Die Firma Leitra wurde von zehn Investoren gegründet, mit Bestellungen und mit Vorauszahlung wurde die finanzielle Grundlage gesichert.

Treffen mit der Polizei (1982)

Es war mitten im kalten dänischen Winter. Viel Wind und Frost. Ich war mit meiner Leitra unterwegs in Kopenhagen. Im Rückspiegel (oben im Haubentop) hatte ich bemerkt, dass mir ein Polizeiwagen folgt. Plötzlich überholt er mich und hält die Stop-Kelle aus dem Fenster. Die Polizei wollte wissen, in was für einem Fahrzeug ich unterwegs war. Sie funkten ihre Polizeizentrale an und teilten mit: ”Wir haben ein UFO gestoppt. Was machen wir?” Ich hatte vorsichtig und bereitwillig demonstriert, dass es nur ein Dreirad war – mit Wetterschutz und Muskelantrieb. Die Antwort der Polizeizentrale kam prompt: ”Beschlagnahmt das Fahrzeug. Lasst ihn nicht weiter fahren.” Ich musste dann zu Fuß, ohne Mantel, im kalten Wind, zum Bahnhof laufen und mit dem Zug nach Hause fahren. Am nächsten Tag habe ich eine Klage an unser Justitzministerium eingereicht.
Eine Woche später kam ein Polizist zu mir in mein Büro in der Technischen Universität, salutiert und gesagt: ”Ich habe etwas für Sie.” Im Hof stand ein großer LKW mit Kran und auf der Pritsche stand meine kleine Leitra.

Erste Genehmigung (1982)

Um weitere Probleme mit den Behörden zu vermeiden, beantragte ich eine allgemeine Zulassung. Der Dänische TÜV war bereit, eine Prüfung durchzuführen, obwohl sie sich sonst nie mit Fahrräder beschäftigten. Die technische Bewertung war positiv, aber die Juristen im Ministerium hatten Bedenken geäußert, eine Zulassung zu erteilen. Ein Argument war: “Man sitzt zu tief”. Ich besuchte dann einen Freund, Besitzer eines MG-Sportwagens. Wenn er in diesem Wagen saß, war seine Augenhöhe zwei cm tiefer als meine in der Leitra. Meine Frage an das Ministerium war dann natürlich: “Wollen Sie auch MG-Sportwagen verbieten?” Danach kam endlich die erste Genehmigung für ein Velomobil in Dänemark, aber mit Bedingungen: Blinker waren nicht gestattet, man musste mit Hand/Arm Signale geben können für Stop und Richtungsänderung. 20 Jahre später wurden die Vorschriften geändert. Nun heißt es: Blinklicht ist vorgeschrieben an Velomobilen, wenn man nicht anders Signal geben kann.

Oslo-Trondheim-Oslo (1983)

Alltagstauglichkeit stand im Fokus. Es gab schon HPVs für Rennen in den USA und auch in Europa sowie in Fernost. Wichtig war es, dass man geschützt gegen Kälte, Regen und Wind bequem zur Arbeit fahren kann, genügend Raum für Einkäufe zur Verfügung steht, dass man einfach einund aussteigen kann (besonders wichtig für ältere Leute) und die Technik zuverlässig und leicht zu warten ist.
Und die Langstrecken? Wenn man kein Auto besitzt, muss man auch längere Strecken fahren können. Lange hatte ich geträumt, den ”Store Styrkeprøve” (Langstreckenrennen Trondheim-Oslo) zu fahren. Ich fand diese Strecke interessant für einen Langstreckentest für die Leitra (2 x 540 km) mit vielen Höhenmeter über die Berge (zwei Mal 540 km, da auch die Anreise nach Trondheim in der Leitra bewältigt wurde – die meisten anderen Teilnehmer reisten per Auto an). Zwar hatte die Rennleitung große Bedenken, denn so ein Fahrzeug hatten sie nie vorher gesehen. Aber ich durfte starten.
Es war ein wunderschönes Naturerlebnis, aber leider mit zu vielen stinkenden Begleitautos für die Rennrad-Firmen-Gruppen. Fünf Jahre später wurden verkleidete Liegeräder für Trondheim-Oslo verboten. Sie waren zu schnell!

Treffen von Pionier-Velomobilisten in Langwedel Ende der 1980iger Jahre.
Von links: Jochen Franke, Peter Lis, Carl Georg Rasmussen, Iwo Eick, Jürgen Eick, Gerd Janss

Festival of Human Power (1984)

Die Kombination aus Fliegen und Radeln habe ich auch ausprobiert, als ich 1984 in England in Thamesmead am Festival of Human Power teilnahm. Die Leitra war zerlegt und konnte im Flugzeug auf drei Sitzen untergebracht werden. Auf dem alten Flugplatz “Biggin Hill” (nur für kleine Privatflugzeuge) südlich von London bin ich gelandet, habe die Leitra schnell montiert und bin nach London/Thamesmead geradelt. Bald merkte man deutlich, dass London in der Nähe ist: es roch nach Fish & Chips.

Deutschland und die Schweiz als Geburtshelfer (1985)

Ich bin dafür dankbar, dass das Interesse an alternativen Pedalfahrzeugen in den 1980er Jahren gewachsen ist, besonders in der Schweiz und in Deutschland. Die zwei Vereine Future Bike und HPV-Deutschland wurden gegründet. Sie haben Treffen und Rennen veranstaltet. Das erste Treffen war übrigens in Nümbrecht. In Genf hatte der Future Bike auf einer Autoausstellung eine Leitra gezeigt und in Bern einen Baukurs für Do-It-Yourself-Interessierte veranstaltet. In zwei Tagen wurden fünf Leitras zusammengebaut und getestet. Später hatte mich der Deutsche Erfinder Verband (Peter Steppina) eingeladen, auf Ausstellungen in München, Hannover und Köln mit der Leitra teilzunehmen. Es hatte gute Kontakte eingebracht und ich konnte neue Kunden gewinnen. Die Kölner Messe IFMA war
damals ein wichtiger Schauplatz für die Fahrradindustrie und auch für neue Liegezwei- und -dreiradmodelle.
Das NDR-Fernsehen sendete eine Serie ”Neue Ideen”. Ich war eingeladen und landete in Oldenburg mit der Leitra als Gepäck auf dem Rücksitz. Die Oldenburg Universität, die in der Fernsehsendung auch eigene Projekte vorführte, hatte den Kontakt vermittelt.

Paris-Brest-Paris (1987)

In Frankreich bot sich im Jahre 1987 an, die Langstreckenfahrt Paris-Brest-Paris mitzufahren, sie ist immerhin 1.250 km lang. So eine Chance lässt man sich nicht entgehen: Die Leitra als Erstes Velomobil in PBP. Es dauerte fast eine Woche, mit der Leitra von Kopenhagen nach Paris zu radeln. Dann ging es nach einem Tag Pause los in Richtung Brest, in Regen mit Gegenwind. Da habe ich wirklich meine Vorteile mit Verkleidung geschätzt. Zusammen mit der Rückreise nach Dänemark sind dann in drei Wochen insgesamt 4.500 km zusammen gekommen.

Das Leitra-Fahrwerk mit den Blattfedern und dem abnehmbaren Sitz.

Critical Mass

Wie schaffen wir mehr Raum und Sicherheit für Fahrradfahrer, besonders in der Stadt?
Einzeln unterwegs, bedrängt uns Radfahrer der Autoverkehr und leider gibt es zu wenige mutige Leute, die Fahrrad statt Auto fahren. Vielleicht müssen nur genügend viele zusammen Radfahren, um Politikern, Stadtplanern und Autofahrern zu zeigen, dass RadfahrerInnen eine bessere Umweltbilanz aufweisen als der Autoverkehr. Die Idee der Critical Mass-Demonstrationen in den Großstädten kam aus den USA und hat sich schnell in Europa verbreitet: in London an jedem letzten Freitag im Monat. Ich habe mit der Leitra an so einer Tour teilgenommen. Hunderte, vielleicht sogar mehr als tausend FahrradfahrerInnen, haben sich bei der Tower Bridge gesammelt und fuhren ganz langsam durch die Londoner City mit Musik und Fahnen, sehr disipliniert und mit Polizisten auf Motorrädern als Schutzeskorte.
Die Demonstration hat de facto die Stadtmitte zwei Stunden lang für den Autoverkehr gesperrt. Damals, in den neunziger Jahren, gab es fast keine Radwege in London. Das hat sich glücklicherweise später geändert – sogar mit dem konservativen Boris Johnson als Oberbürgermeister. Er fährt auch selber Fahrrad. Die Aktionen haben also Wirkung gehabt.

Auslieferung per Pedalkraft

Südengland ist ein Hügelland, ganz anders als die flache Ostküste, East Anglia und Norfork. Ich kam mit der Fähre in Harwich an und hatte geplant, auf dem Weg nach Southampton eine Übernachtung südlich von London einzulegen. Das kleine Hotel «The Swan» sah einladend aus, und trotz einem vollen Parkplatz war ein Zimmer frei. Die Leitra wollte ich gerne sicher für die Nacht parken, aber die Empfangsdame konnte keinen sicheren Parkplatz draußen empfehlen, hat dann kurz überlegt und gesagt: «You may park your nice vehicle here in the lobby for the night – if you can get it through the door.» Ich kam problemlos mit der Leitra durch die Tür. Die Hotelgäste haben neugierig geguckt, wenn sie sich an meinem Velomobil vorbeidrücken mussten. Am nächsten Tag konnte ich frisch und froh weiter nach Southampton fahren und die Auslieferung der Leitra erledigen. Wie kommt eine unverheiratete Lady und Klarinettenlehrerin auf die Idee, sich ein Velomobil anzuschaffen?
In den 1990ern gab es einen schönen Katalog über Spezialräder, die Encycleopedia und auch eine sehr beliebte Zeitschrift, Bike Culture, auf Englisch und Deutsch. Ich war Regionalverteiler für den Verlag Open Road aus York und habe auch inseriert. Ms. Dixon hat die Leitra in diesem Katalog gefunden und sofort gedacht: so ein Ding muss ich auch haben. Ohne Auto kann man sich ein bisschen Fahrradkomfort erlauben. Sie wusste auch, dass es da schon einen Leitra-Fahrer an der Kanalküste gab, ein Polizist in Plymouth.
Schon bei der Bestellung war es klar, dass der Kauf nicht ohne Bedingungen war: ”Mein Hund muss mitfahren können”. Mein Vorschlag, einen Hundeanhänger zu verwenden, wurde nicht angenommen , und die Leitra wurde deshalb mit einer Hundekabine als Heckhaube ausgestattet. So war der Nahekontakt zwischen Hund und Fahrerin sichergestellt. Derselbe Typ Heckhaube mit Fenster wurde später mit Kindersitz eingerichtet.

Leitra mit Hundekanine

Internationaler Ideen- und Erfahrungsaustausch

Eine gute Presse bringt Ideen weiter und hat viele Designer, Mechaniker und Bastler zum Eigenbau inspiriert. Es hat mich ein Vermögen gekostet, hunderte von Anfragen aus Amerika und Europa per Brief und Luftpost zu beantworten. Viele der Anfragen kamen von DIY- (do it yourself) Leuten. Dann kam das Internet auf und machte unsere Kommunikation viel billiger und schneller (Eine Katastrofe für die Post). Fahrradkonstrukteure aus Holland, Österreich und Deutschland haben in der Leitra-Werkstatt längere Zeit mitgearbeitet (z.B. Bram Moens,Thomas Seide, Harald Winkler), und aus der Schweiz hat Michael Kutter seinen E-Antrieb «Velocity» mitgebracht und in seiner Leitra eingebaut. Das Interesse für E-Antriebe ist schnell gestiegen, und in Deutschland (Frankfurt) hat Hannes Neupert in 1993 ein «Umwelt Xploratorium» gegründet, das sich mit Tests und Vergleichen von E-Antrieben beschäftigt. Die Kutter-Leitra war ein früher Teilnehmer in den Tests. Später hat Hannes Neupert sein Engagement mit E-Antrieben erweitert, um auf Ausstellungen mit Vorträgen und Tests unter dem Namen «Extra Energy» tätig zu werden.
1993 war auch das Jahr, in dem ich zum ersten internationalen Velomobil Design Seminar eingeladen habe. Es fand in der DTU in Lyngby Dänemark mit fast 100 Teilnehmern statt. Das Interesse, die Lücke zwischen Auto und Fahrrad auszufüllen, war groß und das Velomobil wurde ein populäres Design Objekt. Schon ein Jahr später hat Future Bike CH den Erfolg mit dem Design Seminar in Laupen wiederholt und 1999 in Interlaken. Der HPV Deutschland hat in 2004 das Seminar Nr. 5 in Germersheim organisiert, und dann haben Holland (2012) und Österreich (2015) die Stafette weitergeführt. Insgesamt sind acht Seminare dokumentiert: www.velomobileseminars.online (Danke an
Simon Bailey!). Mittlerweile kamen auch wichtige Bücher auf den Markt. Besonders das Buch ”Die Wissenschaft vom schnellen Radfahren” aus 2008 von Andreas Pooch hat viele Designer inspiriert und eine gute Grundlage für konstruktive Verbesserungen geschaffen.

Der 9/11-Schock

Kunden haben oft bei der Montage mitgeholfen, so auch Dick Smart aus Idaho. Ich hatte Schwierigkeiten, eine kleine Schraube auf einer schlecht zugänglichen Stelle in der Haube anzubringen. Dick hat das Problem bemerkt und sagte: »Lass mich – ich bin Zahnarzt ». Und tatsächlich, er hat das richtige Werkzeug ausgesucht und das Problem gelöst. Später haben wir zuhause die Fernseh-Nachrichten angeschaut und einen Schock bekommen. Ein Tower im World Trade Center in New York brannte und kurz danach sahen wir, wie ein Passagierflugzeug direkt in den zweiten Zwillingstower flog. Und dann kam noch eine weitere schlimme Nachricht dazu: Auch das Pentagon ist getroffen. Dicks Sohn arbeitete im Pentagon. Es war der 11. September 2001. Die nächsten zwei Tage war der Luftraum gesperrt, Dick musste seinen Rückflug in die USA aufschieben. Endlich, drei Tage nach dem Terrorangriff durften wir zum Flughafen in Kopenhagen radeln, die Leitra teilweise zerlegen, in Bubblefolie einpacken und als Reisegepäck einchecken. Den Zusammenbau in Idaho hat Dick natürlich problemfrei alleine geschafft. Zusätzlich hat er einen Kindersitz für sein Enkelkind eingebaut. Vielleicht erinneren sich die Teilnehmer am ersten Velomobil-Seminar in der Schweiz noch Dick Smart. Er hat einen Vortrag in Laupen über Schienen-Fahrräder gehalten. Er baut selber Spezialräder für Schienenfahrt.

Dick Smart auf Schienenfahrt

Ich bin selber mehrmals mit einer Leitra als Reisegepäck in die USA geflogen. In 2004 haben zwei Leitra-Fahrer in Iowa und Minnesota mich eingeladen die »Ragbrai”-Ralley, Cross Iowa, mitzumachen. Als ich in Minneapolis ankam und die Leitra zusammengebaut hatte, wollte ich mit dem Rad vom Flughafen abfahren. Es war aber nicht möglich. Alle Ausfahrtstraßen waren nur für Autos. Also musste ich meinen Pensions-Wirt anrufen und bitten, mich mit einem Van abzuholen. Nach Cross Iowa habe ich die Leitra an eine Frau verkauft. In San Fransisco habe ich in 1998 eine Leitra an die Firma ZAP übergeben. Sie haben einen ZAP-Reibrollmotor eingebaut und eine Demo-Tour von Santa Rosa nach Los Angeles gemacht – nur mit Sonnenenergie. Ein faltbares Sonnenpanel hat für den Strom gesorgt.
Im Jahre 2005 haben wir die ersten 25 Jahre Leitra in Dänemark groß gefeiert, mit vielen Gästen aus Deutschland und eine 2-Tage Radtour veranstaltet.

Velomobile-Eurotours

In den letzten 20 Jahren ist das Interesse für Velomobile – besonders für sportliche Anwendungen – stark gestiegen. Geschwindigkeit wurde Leitmotiv, imponierende Rekorde wurden erreicht. Hunderte von neuen Designprojekten sind zustande gekommen, auch solche, in denen das Velomobil als praktisches Verkehrsmittel im Fokus ist.
Mein Interesse war in erster Stelle die Anwendung als Autoersatz, auch für längere Reisen. Deshalb habe ich lange Campingtouren durch Skandinavien, Deutschland, die Schweiz und England organisiert. Meistens mit fünf bis zehn Teilnehmern. Die Herausforderung waren immer, lange Strecken unabhängig zu meistern, das bedeutet, ohne Begleitwagen für Gepäck und Ausstattung.

Eurotour – Start in Leer mit Begrüßung durch den Bürgermeister (weißes Hemd)

Die Ambitionen sind ständig gestiegen, und in 2011 hat Josef Janning die erste Velomobiltour quer durch die USA, die ROAM, organisiert. Es hat viel Aufmerksamkeit gebracht. Im folgenden Jahr wurde geplant, die Amerikaner auf einer ähnlichen Tour «Cross Europe» einzuladen. Heike Bunte hat sehr aktiv die Tour unterstützt, sie hat sogar einen Schiffstransport für die amerikanischen Velomobile gesichert, aber leider haben sich zu wenige Teilnehmer angemeldet. Ich habe dann einen «Plan B» vorgeschlagen: 2013 ging es los mit der ersten Velomobile-Eurotour durch Deutschland, Holland, Belgien, Frankreich, Luxemburg, mit Start und Ziel in Leer.
Da waren Teilnehmer aus Norwegen, Dänemark, Deutschland, Holland, Belgien, UK und eine Frau aus Seattle, USA. Nur die Hälfte von den 15 Teilnehmern haben die 2.000 km geschafft, weil es in diesem Sommer extrem warm war (bis 35° C), nicht alle Velomobile hatten eine gute Belüftung. Schon 2014 gab es wieder Langstrecken-Touren mit Velomobilen: Die Oslo – Berlin Eurotour und die Ostsee – Baltikum Runde, nun gibt es fast jedes Jahr internationale Gruppentouren. Tourismus mit Velomobil oder Fahrrad, statt mit dem Auto, hat viele Vorteile. Man hat mehr Zugänglichkeit, weniger Ärger mit Stau, bekommt ganz automatisch Bewegung und kann viel besser gutes Essen und Getränke genießen.

EU-Entrepreneur-Preis

In Brüssel hat man lange überlegt, wie man in Europa mehr junge Unternehmer gewinnen kann. Es resultierte in einem zwischenzeitlich 10 Jahre alten Programm: «ERASMUS for young entrepreneurs». Die Idee ist: Man lädt junge Leute mit Initiative und Ideen ein, bei einer Firma, drei bis sechs Monate das Unternehmen in der Praxis kennenzulernen. Gleichzeitig bietet die EU ein ERASMUS-Stipendium für die Studienzeit an. Voraussetzung ist, dass die Firma sich nicht in dem Land befindet, wo der hoffnungsvolle Unternehmerkeim zuhause ist, sondern in einem anderen EU-Land. Die Stipendien wurden sofort nachgefragt. Ein Designer, Sylvain aus Auvergne in Frankreich, hat eine Anfrage an die Firma Leitra DK Aps geschickt. Wir haben uns früher auf der SPEZI getroffen. Er möchte gerne Velomobile in Frankreich bauen/verkaufen. Nach sechs Monaten in Dänemark hat er die Firma Velovergne gegründet. Später (2013) hat die Kommission einen Wettbewerb unter den ERASMUS-Projekten ausgeschrieben, und Sylvain (als young entrepreneur) und ich (als host entrepreneur) haben in Brüssel einen Preis gewonnen.
Auch zwei junge Ingenieure aus Tarpes (Südfrankreich) und Garda (Norditalien), waren ERASMUS Stipendiaten bei Leitra in Dänemark. Dazu kam mehrere Gruppen von Ingenieurstudenten aus Frankreich und Deutschland auf «Internships» (Praktikum). So hat die kleine Firma Leitra sich als Ausbildunginstitution entwickelt.
Auch die Rolle als Investor in anderen Firmen habe ich ausprobiert, allerdings mit weniger Erfolg. Die Firma Leitra Deutschland GmbH mit Sitz in Bielefeld übernahm in 1999 das Geschäft für Deutschland, und der Geschäftsführer Tobias Enke wollte auch die Leitra Velomobile in Deutschland herstellen lassen, hat aber keine kompetenten Hersteller gefunden. 12 Jahre später hat die Firma aufgegeben und MIKUS in Lorch hat die Vertretung übernommen.

Bike-Revolution-Leitra

In der Schweiz war eine neue Firma AUTORK in Bern dabei, das kettenlose System (ein Serie Hybrid Antrieb), zu entwickeln. Ich fand das System interessant und habe investiert. AUTORK hat es leider nicht geschafft ein fertiges Produkt zu entwickeln. Die Investition war verloren, aber das Prinzip ist heute in Anwendung bei anderen Firmen (z.B. in Dänemark).
Ich habe früh eingesehen, dass Elektrounterstützung für Alltagsvelomobile eine aussichtsreiche Zukunft hat. Deshalb habe ich mich schon in 2005 als Vertreter für BionX in Dänemark engagiert, und die nächsten zehn Jahre wurden viele Leitra-Velomobile mit BionX Nabenmotor ausgestattet. Es war schön zu fahren, hat Recuperation, aber auch Sorgen gebracht, wenn es nicht funktionierte. Es war teuer, Motoren und Steuereinheiten für eine Reparatur nach Kanada zu schicken. Deshalb habe ich mit der Vertretung aufgehört und habe andere Hilfsmotoren benutzt, wie Cyclone, BAFANG, Schachner und Crystalyte. In 2018 ist die Firma BionX in Konkurs gegangen. Ein Hilfsmotor muss wirklich leicht reparierbar und zuverlässig sein.

Geschäft oder/und Hobby

Es macht Spaß Velomobile zu konstruieren, herzustellen und zu fahren. Deshalb gibt es heute Tausende von Modellen. Die meisten verbleiben experimentelle Design-Projekte, auf Papier oder als Einzelstück. Nur wenige wurden in Serien produziert, Massenprodukt war keines. Die Herstellung ist noch viel Handarbeit und deshalb relativ teuer. Grundsätzlich gibt es zwei VelomobilKonzepte: Ein 2-, 3- oder 4-rädiges Liegerad mit angebauter Haube oder einer selbsttragenden Karosserie, (ein Monocoque Typ, wie ein Miniauto). Die Leitra gehört zu der ersten Gruppe. Man kann das Dreirad ohne Haube fahren, oder man kann es mit verschiedenen Haubenmodelle (Größe, Design, Spezifikation, Anwendung etc.) ausstatten.
Leute, die schon ein Liegedreirad haben, suchen dann und wann eine Haube für den Wetterschutz. So gibt es mehrere AnthroTech-Fahrer, die eine Leitra-Haube angebaut haben. Das geht, ist aber nicht immer so optimal. Für tiefe Liegeräder wie die SteinTrikes oder HP Velotechnik Scorpion geht es nicht. Man sitzt zu tief und verliert die Sicht. Deshalb haben wir die Wildcat Haube entwickelt. Sie ist flacher, sportlicher und lässt sich auf viele tiefe Liegedreiräder anpassen.

Goodiepals Wildcat-Leitra

Es gibt viele individuelle Vorstellungen, was ein Velomobil ist und wofür man es verwenden kann. Deshalb bin ich oft bereit, die Leitra Werkstatt zu öffnen für Mitbau oder Modifikationen. Besonders deutsche Kunden haben diese Möglichkeit oft benutzt. Es hat auch den großen Vorteil, dass sie das Fahrzeug dann gut kennen und die Wartung selber besorgen können. Viele sind weit über 100.000 km gefahren, einige sogar 200.000 – 300.000 km.
Die Motivation kann unterschiedlich sein, z.B. dass man kein Auto oder keinen Führerschein hat. Oft sind es Leute, die umweltbewusst sind und gerne zur Energiewende beitragen wollen. Speziell Künstler finden es interessant, alternative, nachhaltige Beförderungsmittel zu benutzen, hier bietet sich das Velomobil an. Der Musiker, Kunstmaler und Performancekünstler Goodiepal fuhr durch Skandinavien und das Baltikum, von den Färöer Inseln und Island über Norwegen, Schweden, Finnland und St. Petersburg bis Litauen mit der Leitra, ist unterwegs aufgetreten mit Musik und Vorträgen. Wieder zu Hause hat er die Leitra mit mythischen Figuren bemalt und das Velomobil an Statens Museum für Kunst verkauft. Da ist es nun permanent ausgestellt. Er hat sofort eine neue Leitra, mit Wildcat Haube, gekauft und ist nach England gefahren.
Es ist ein Vergnügen zu erleben, dass besonders einige junge Leute auf das Benzin-Auto verzichten und Pedal- oder Elektrofahrzeuge bevorzugen. Der Trend ist aber noch viel zu schwach, um spürbar positiv zu wirken. Auf einen echten Durchbruch warten wir noch. Man merkt einen Trend gegen mehr Zusammenarbeit unter den Herstellern, besonders in Deutschland und Holland. Auch die Leitra-Modelle werden nicht mehr nur in Dänemark gebaut, sondern auch bei Bike-Revolution in Österreich und die Wildcat Haube bei Velovergne in Frankreich. Thomas Seide baut auch eigene Modelle wie die Leitra Avancee, Interceptor und Thunderstorm. Sein bestes Geschäft sind aber weiterhin die berühmten, vollgefederten Liegedreiräder.
Ein Überblick über die letzten 40 Jahre zeigt, dass ganz viele von den Leitra Velomobilen noch fahren. Einige haben mehrere Besitzer gehabt, eine deutsche Familie hat es bis zur dritten Generation gebracht. Der älteste noch lebende Leitra-Fahrer ist 95 Jahre alt, der jüngste 13 Jahre. Man kann mit dem Märchendichter ruhig sagen, «…und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende».
Auf Wiedersehen in Germersheim auf dem Bike Revolution Stand!

Carl-Georg Rasmussen 2015