Text: Andreas Hertting, Fotos Andreas Hertting und Carsten Böttcher
Die diesjährige Weltmeisterschaft vom 16.-18. August 2024 wurde vom British Human Power Club (BHPC) ausgerichtet. Austragungsort war die in der Grafschaft Kent gelegene Kleinstadt Deal. Der Urlaubsort am Ärmelkanal, den schon Winston Churchill schätzte, liegt nur wenige Kilometer vom Fährhafen Dover entfernt. Der eigentliche Veranstaltungsort, der Betteshanger Park, liegt in einer malerischen Heidelandschaft.
Besonders für Kinder werden viele Attraktionen geboten. Ursprünglich war es eine Kohlenmine, woran ein Museum erinnert. Das Wetter war heiß und trocken, wie man es in England nicht so erwartet.
Die Rennstrecke
Der asphaltierte, kurvenreiche Rennkurs hat eine Länge von 3,3 Kilometern und einen Gesamtanstieg von sechs Höhenmetern. Er lässt sich in einen oberen und einen unteren Rundkurs teilen: Der obere Rundkurs ist 1,35 Kilometer lang und weist zwei Höhenmeter auf, der untere erstreckt sich über 2,11 Kilometer, hier sind sechs Höhenmeter zu überwinden. Zusätzlich kann die Fahrtrichtung gewechselt werden, was einige Möglichkeiten für die Gestaltung der Streckenführung eröffnet.
Der zeitliche Ablauf
Die Veranstaltung begann am Freitagnachmittag mit der Registrierung der insgesamt 120 Teilnehmer, die bei dieser Gelegenheit eine Tasche mit einigen Infos, der Startnummer und den Tags ausgehändigt bekamen. In der Tasche befand sich auch eine Gedenkschrift für Mike Burrows (17. April 1943 – 15. August 2022), einen der wichtigsten Liegerraddesigner, der noch 2018 mit seinem Ratcatcher an der Weltmeisterschaft an eben diesem Ort teilnahm. Die Tags sind RFID-Chips, die auf Klebefolie gedruckt sind. Zwei, die man voneinander versetzt zur rechten und linken Seite anbringen sollte, dienten der Erfassung bei Start und Ziel. Bei mir landeten die Tags auf der Startnummer, die ich hinter den Sitz an den Rahmen geklebt hatte.
Bei einigen Teilnehmern sollte die Zeitmessung nicht vollständig funktionieren, weshalb nach den Sprintrennen die Rennleitung bei diesen Teilnehmern die Tags korrigieren musste.
Am Abend ging es dann zu einer Einführungsrunde zum ersten Mal auf die Rennstrecke. Hierbei nahmen die Organisatoren eine Einteilung in drei Geschwindigkeitsgruppen vor, um dadurch eine Verringerung der Überholvorgänge bei den Rennen und damit eine Verbesserung der Sicherheit zu erreichen. Der Sicherheit diente auch die Pflicht einen Helm zu tragen, außerdem ein paar Strohballen an der Strecke.
Am Samstagvormittag folgten die Sprintrennen, stehender Start 100 m und fliegender Start 200 m, und am Nachmittag das Ein-Stunden-Rennen auf dem unteren Kurs. Das Viertelstundenrennen auf dem oberen Teil und das Drei-Stunden-Rennen auf dem vollen Rund mit der abschliessenden Siegerehrung fanden am Sonntag statt.
Der Unfall und eine glückliche Überraschung
Das Einführungsrennen musste abgebrochen werden und die Gruppeneinteilung konnte nicht wie geplant erfolgen. Bei der Einführungsrunde am Freitag fuhr Marco Ruga (Italien) mit zu hoher Geschwindigkeit in eine enge Kurve, verriss die Lenkung und rutschte mit seinem Streamliner auf der Seite liegend von der Strecke in eine Gruppe am Rand stehender Teilnehmer. Dabei wurde auch das Zockra der WM-Teilnehmerin Thaïs Leborgne aus Frankreich beschädigt. Die Aufnahmen der Onboard-Kamera an Marco Rugas Rad, die dieser später auf YouTube hochlud, zeigen den Vorgang aus der Fahrerperspektive. Nach einiger Zeit wurde den wartenden Fahrern mitgeteilt, dass wegen des Unfalls das Einführungsrennen abgesagt wurde. Weitere Informationen kamen zunächst leider nicht durch.
Das doppelte Glück im Pech für Thaïs Leborgne: Sie wurde zwar in den Unfall verwickelt und von dem aus der Kurve fliegenden Streamliner erwischt, doch offenbar durch ihr Rad geschützt, das beschädigt wurde. Die Leute von ICE liehen ihr ein schnelles VTX für die Kategorie der unverkleideten Mehrspurer aus – und sie gewann in ihrer Kategorie. Hierzu muss angemerkt werden, dass der ICE-Stand meiner Beobachtung nach der einzige Stand eines Herstellers war. Sie boten kostenlose Reparaturen für die Teilnehmer an. Somit bleibt eine klare Aussage: Diese Weltmeisterschaft ist nicht kommerziell ausgerichtet, so wie auch bisher alle HPV-Events.
Anders als bei durchkommerzialisierten Rennen wie der Tour de France braucht man kein professionelles Unterstützungsteam, um aussichtsreich an der HPV-WM teilnehmen zu können. Es gibt hier Einzelkämpfer, die gar keine Unterstützung haben, es gibt hier Tandemfahrer, die ohnehin schon ein kleines Team bilden und es gibt die Unterstützung von nahestehenden Personen, die zum Beispiel einfach mal die Haube tragen oder beim Start unterstützen, damit der Streamliner nicht beim ersten Antritt umfällt. Es gab auch welche, die mir Tips gaben und mir ein wenig halfen, schneller zu werden. Aber ICE bot in diesem Fall eine ganz besondere Form der Unterstützung.
Kategorien und Ergebnisse
Die Ergebnisse der WM sind online auf einer vorbildlich gemachten Seite einsehbar (wc2024.bhpc.org.uk). Zu finden sind Anmeldeliste, Ergebnisliste, Ziellinienfotos und Rennverläufe. So sieht man gut, dass die Streamliner nicht nur schwach im Sprint sind, sondern auch bei den längeren Rennen einen schlechten Start haben. Dies dürfte Stephen Slade den Sieg gekostet haben. Auf der Website ist schließlich noch eine individuelle Zeitentabelle einsehbar, wenn man auf die Startnummer in der Ergebnistabelle zu einem Rennen klickt. Die Fahrer mussten sich bei der Anmeldung entscheiden, in welcher Kategorie sie antreten: Einspuriges Fahrzeug mit Voll-, Teil- oder ohne Verkleidung, Mehrspurer mit oder ohne Verleidung, Velocars, Tandems oder Handbikes. Dennoch sollte die Leistung der beiden Handbiker besondere Beachtung finden, oder geht jemand freiwillig öfter mal auf den Händen oder fährt ein Handbike? Es gab also keine spezielle Kategorie für Menschen mit Einschränkungen oder Handicap. Ansonsten kann man in der Anmelde- oder Ergebnisliste nicht erkennen, ob hier jemand mit oder ohne körperliche Einschränkungen angetreten ist. Daher bleibt mir deren Zahl unbekannt, aber mir scheint, dass die Weltmeisterschaft von dieser Personengruppe sehr gut angenommen wurde. Wohl eher traditionell ist die Extrawertung für die Frauen und Jugendliche.
So, let’s start
Stephen Marsh gewinnt die Handbike-Kategorie vor Sherif Harding als einzigem Konkurrenten, beide Great Britain.
Bei den JuniorInnen gewinnt Alexander Bray (GB) vor Elodie Bertin,Frankreich.
Bei den Damen gewinnt in der Kategorie unverkleidete Mehrspurer Thaïs Leborgne aus Frankreich vor Judith Swallow und Kim Kimura, beide GB.
Bei in der Gruppe der Junioren gewinnt Miriam Eisermann aus Deutschland vor der bereits erwähnten Elodie bei den Unverkleideten.
Andrea Hämmerle aus Österreich gewinnt bei den Vollverkleideten für die Damen vor ihren Mitstreiterinnen Jemma Chapman und Kim Wall aus Grossbritannien.
Beim Tandem gibt es bei drei teilnehmenden Fahrzeugen sechs Gewinner: Lelievre, Geoffroy & Louis vor Parker, Esther & Tim vor Scieur, Hervé & Christine. Diese Klasse hat eine unerreichte Siegerquote von 100%!
Sechs Velocars, Pedalcars, traten an, und die Sieger sind: Alexander Bray, Marc Butterworth und Sally Buckworth. Hier gab es einen rein englischen Wettkampf.
Bei den unverkleideten Mehrspurern glänzten Philippe Descubes, Frankreich, auf einem ICE VTX, einem Tadpole, vor James Coxon (GB) und
Tim Corbett (Australien) auf Delta-Renndreirädern.
Nun zur Disziplin der geschlossenen Mehrspurer, sprich der Velomobile, die neben den Streamlinern und Highrisern die Blicke auf sich zogen: Pieter Sijbradij aus den Niederlanden, der eigentlichen Heimat der Velomobile, verweist Julian Kraft und Jonathan Schmidt auf die Plätze mit einem Tuna vor einem DFXL und einem MilanSL. Auf dem letzten Platz der 32 Teilnehmer langen Liste findet sich das hinreissend aussehende Vulcan – eine einfach atemberaubende Erscheinung – des Konstrukteurs Jeff Bird. Seine schlechte Wertung lag wohl hauptsächlich daran, dass er zum letzten Rennen nicht antrat.
Bei den unverkleideten Einspurern dominieren die Highriser, weshalb viele Räder mit Laufradgrösse 28“ am Start waren. Von der leider nicht mehr existierenden Firma TroyTec stammt das Siegerrad von Marvin Tunnat aus Hamburg, der vor Riwan Leborgne (Zockra, Frankreich) und Folkert Niemeyer (Deutschland) ins Ziel rollte. In dieser Klasse traten ebenso viele Fahrer an wie in der der Velomobile, womit die beiden die teilnehmerstärksten Klassen sind. Die Einspurer lassen sich leichter transportieren und bieten für das Training Vorteile, was ihre Popularität bei der WM erklären kann. Aber die Unverkleideten konnten sich in der Gesamtwertung nicht durchsetzen. So belegte Marvin Tunnat nur den dreizehnten Gesamtrang, obwohl Betteshanger Park wegen der vielen Kurven ein eher langsamer Kurs ist.
Schließlich sollten noch die Exoten erwähnt werden: Teil- und vollverkleidete Einspurer. Mit einem Birk Comet setzte sich unser Redakteur Michael Amman von den Future Bikern gegen den Franzosen Julien [Nachname nicht registriert] und den Schweizer Sandro Bollina durch. Andi Gerber (CH) lief auf dem undankbaren vierten Platz ein. Nach ihm kamen noch fünf weitere Fahrer in dieser Klasse in die Wertung.
Die Wertung der Streamliner überrascht den Beobachter: Russel Bridge (GB) siegt. Liam Goodman (GB) liegt auf Platz zwei. Beide waren durch die gleiche Wertung der einzelnen Rennen besser bewertet worden, so dass die Beobachter an der Strecke stets Rindlisbacher und Slade in Führung sahen. Die Szene war wie ein Déjà Vu von 2018, als statt Christoph Charles Henry ebenfalls das Birk fuhr – und Stephen dahinter. Daher Christoph Rindlisbacher (CH) auf Platz drei und der mittlerweile 63-jährige Stephen Slade (GB) auf Platz vier.
Tech-Talk
Bei der WM konnte ich interessante technische Lösungen und Modifikationen beobachten. Dazu gehört die Verkleidung der Vorderräder mit den sogenannten Hosen, beim DF zum Beispiel, oder die Aerodynamik verbessernde Verlängerungen des Hecks. Außerdem Delta-Renndreiräder, die hierzulande unbekannt sind: Sie sind quasi ein Rennrad mit zwei Hinterrädern. Corbett hatte für den Flug von Australien nach England den Hinterbau über Schraubmuffen zerlegt. Dieses Detail zeigt den enormen Aufwand, den Teilnehmer aus Übersee für die Teilnahme an der WM betreiben. – Wir warten auf ein zerlegbares Velomobil…
Die Weltmeister
Es bleibt die Gesamtwertung: Die Schnellsten reihten sich hinter den starken Sprintern ein, weil die Rennen jeweils gleich gewichtet wurden.
- Platz Drei: Jonathan Schmidt im Milan SL.
- Platz Zwei: Julian Kraft im DFXL.
- Platz Eins: Der Gesamtsieger der WM kommt aus den Niederlanden: Pieter Sijbradij, Rennnummer 556, mit seinem Tuna.
Wie immer gibt es viele Videos von Teilnehmern, z.B. hier ein Mittschnitt des Langstreckenrennens.